20. Dezember 2023

Rede des Stadtverordneten Martin Kraft zur TO I TOP 7 „Lärmminderungskonzept Innenstadt – Finanzmittelfreigabe für Tempo 30/40“ in der Stadtversammlung am 20. Dezember 2023

Das Konzept „Tempo 30/ Tempo 40 in der Innenstadt“ ist hier einsehbar.

Es gilt das gesprochene Wort.

Sehr geehrter Herr Stadtverordnetenvorsteher, 
liebe Kolleginnen und Kollegen, 
liebe Gäste, 

8.585 Verkehrsunfälle gab es im Jahr 2022 in Wiesbaden; 878 Leichtverletzte; 130 Schwerverletzte; 7 Tote. In 707 Fällen war die Hauptunfallursache ungenügender Sicherheitsabstand (und damit indirekt nicht angepasste Geschwindigkeit). 87 Kinder haben im Jahr 2022 auf unseren Straßen Verletzungen davongetragen, bloß weil Sie sich am Verkehrsgeschehen beteiligten. 8 davon wurden schwer verletzt. Erst vergangene Woche gab es einen Verkehrsunfall mit einem Kind auf der Dotzheimer Straße. 

Der Anhalteweg bei 30 km/h liegt bei 18 Metern (er setzt sich aus dem reinen Bremsweg und der während der Schrecksekunde gefahren Streck zusammen). Der Anhalteweg bei 40 km/h liegt bei 28 Metern und der Anhalteweg bei 50 km/h ist satte 40 Metern lange. Das sind 12 Meter mehr! Ein Auto das 50 statt 40 km/h fährt, kommt 12 Meter später am stehen. Und dort wo das Auto mit Tempo 40 schon steht, da hat das Auto mit Tempo 50 noch über 35 km/h drauf! 

Die hohe Dichte von Verkehrsknoten in unserer Stadt ist nicht zu vergleichen mit einem ländlichen Verkehrsnetz. Hier in Wiesbaden liegen oft weniger als 100 Meter zwischen den einzelnen Einmündungen. Wir sind damit in einer Situation wie viele andere dichte Städte europaweit und weltweit. Und wie in vielen anderen Städte macht man sich hier auch Gedanken darüber, wie man mit den Sicherheitsrisiken Straßenverkehr umgeht. 

Das Stichwort hierfür ist „Vision Zero“! 2019 wurde in Helsinki (der finnischen Hauptstadt) die Vision Zero zum ersten Mal Realität. Zum ersten Mal gab es dort im gesamten Jahr keinen einzigen Verkehrstoten, keine Verkehrstoten, keinen Mensch, der des Verkehrs wegen sein Leben lassen musst. Und der Hauptgrund dafür war, dass Helsinki Tempo 30 so weit wie möglich in allen Nebenstraßen und Tempo 40 allen Hauptstraße eingeführt hatte. 

Hier in Deutschland fordern mittlerweile 1011 Kommunen (die von den unterschiedlichsten Koalitionen, unterschiedlichen Oberbürgermeisterinnen und Oberbürgermeister regiert werden), dass sie mehr Handlungsspielraum bekommen, um die Geschwindigkeiten in ihrem Stadtgebiet zu regulieren. 1011 Kommunen die von der CDU Mehrheit im Bundesrat leider mal wieder vor den Kopf gestoßen, also sie dort vor kurzem die Reform der StVO blockiert. 

Die Wissenschaft ist sich ziemlich einig, dass angemessene Höchstgeschwindigkeiten der Hauptschlüssel zu mehr Verkehrssicherheit sind. Der wissenschaftliche Beirat der Bundesregierung fordert für mehr Verkehrssicherheit Tempo 30 als Regelgeschwindigkeit innerorts und, dass das Abweichen nach oben (zum Beispiel zu Tempo 40 oder 50 auf den Hauptachsen) zu begründen ist – und nicht umgekehrt. Der Deutsche Verkehrssicherheitsrat stellt fest: „Die Menschen haben ein Anrecht auf ein sicheres Verkehrssystem!“ 

Der Verkehrsfluss wird von den Geschwindigkeiten bei Weitem nicht so beeinflusst, wie das hier mehrfach dargestellt wurde. Wegen der unterschiedlichen Sicherheitsabstände ist die sogenannte Sättigungsverkehrsstärke bei verschiedenen Geschwindigkeiten nämlich annähernd gleich groß. Wir haben also annähernd gleich viele Autos auf der Straße, egal ob die jetzt 30, 40 oder 50 fahren. 

Und das, was hier immer wieder als das Ausbremsen des Autos dargestellt wurde, beträgt in der Realität auf der gesamten Strecke vom Sedanplatz, über den ersten Ring bis zum Stadion an der Berliner Straße gerade mal 41 Sekunden! Und das auch nur dann wenn man vorher durchgängig 50 gefahren ist und danach durchgängig 40. Wird wir leben aber in einem Stadtverkehr mit sehr unterschiedlichen Geschwindigkeiten, Abbrems- und Beschleunigungsvorgängen und deshalb ist der Zeitverlust deutlich geringer. 

Demgegenüber stehen 17.300 Menschen, die in den Straßen wohnen, um die es bei der hier diskutierten Maßnahme geht. 17.300 Menschen, die zum Teil keine 6 Meter entfernt von der ersten Fahrspur ihr Bett stehen haben. Direkt an Straße, die (wie beispielsweise wie die Schwalbacher) bis zu 8 streifig ausgebaut ist und damit Autobahn-Charakter haben. 

Das, liebe Kolleginnen und Kollegen, das sind die Fakten zum Thema Sicherheit – die Fakten zu den Themen Lärmschutz und Emissionen haben Sie ja bereits gehört. 

Das sind die Fakten, auf deren Basis die Ämter ihre Entscheidung fällen müssen. 
Das sind die Fakten, die eine Aufgabenstellung sind an alle, die sich verantwortungsvoll mit Verkehrspolitik und einen Interessenausgleich anstreben – zwischen denen, die mit ihrem Auto durch eine Stadt fahren wollen, und denen, die dort wohnen, einkaufen, spazieren oder zur Schule gehen. 

Diesen Ausgleich hinzubekommen, das haben die städtischen Ämter getan (und dafür bin ich ihnen außerordentlich dankbar) und das Maßnahmenpaket für Lärmschutz und angepasste Geschwindigkeiten entwickelt, dass Ihnen heute vorliegt. 

Ich glaube, es würde uns allen gut tun, etwas mehr Sachlichkeit in dieser Debatte an den Tag zu legen, statt ständig wieder eine letztlich dann doch ideologisch motivierte Pro vs. Anti-Auto Debatte zu führen. Die autogerechte Stadt, das war mal eine Ideologie vor mittlerweile 50 Jahren. Und ich habe leider das Gefühl, dass sich von dieser Ideologie noch nicht alle hier getrennt haben, und dass es deshalb immer wieder dieselbe reflexartigen Gegenreaktion kommen, sobald es um dieses Thema geht. Wir reden hier ja wirklich nicht das erste Mal darüber. Allein in der Stadtverordnetenversammlung hatten wir schon 3 oder 4 mal das Thema Geschwindigkeit in unseren Straßen. Und wenn Herr Seldenreich (AfD) jetzt fordert, diese Vorlage wieder in den Mobilitätsausschuss zurückzuschicken: Sie wissen selbst genau, wie lange wir in der letzten Ausschusssitzung dort genau über dieses Thema geredet haben! Es sind absolut alle Argumente ausgetauscht und rein von der wissenschaftlichen und verkehrstechnischen Seite her sind die Argumente eindeutig. Und deshalb ist es so gut, wenn es jetzt endlich so kommt, wie es in dieser Vorlage beschlossen werden soll. 

Dankeschön!